Fortschritts-Hoffnung durch den Tod? Am Ende der ARD-Themenwoche zur Andacht auf dem Basdorfer Friedhof: Nachdenken über Jesaja, Euthanasie und die Erschossenen in Moskau.

Jesaja 65, Vers 17,22 +23

Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, in der Gerechtigkeit wohnt.

Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse.
Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen plötzlichen Tod zeugen
.

Ich war noch nie zum Totensonntag auf dem Friedhof.

Ich fand immer, das ist was für Alte.

In Bayern aufgewachsen dachte ich, das ist was für Katholiken, die Allerheiligen und Allerseelen diese roten Dauerkerzen auf die Gräber stellen.

Hochmut.

Unwissen.

Jetzt bin ich selber alt. Na ja: 62.

Und lebe in einem Dorf, in dem nicht jeden Sonntag Gottesdienst mit Predigt in geheizter Kirche auf dem Programm steht. Die Heizung ist kaputt, die Pfarrerin „be-predigt“ drei Gemeinden.

Heute am Totensonntag, lädt sie zur Andacht auf den Friedhof ein.

Bei 6 Grad.

Zieht Euch warm an.

Ja, wir sind ein kleines Häuflein. Dick eingemummelt. Und der Talar der Pfarrerin, weht im halten Herbstwind und enthüllt die darunter befindliche Jeans. Irdisches und Himmlisches im Herbst.

Totensonntag 2012. Mathis, die erste.

Überraschung gleich zum Beginn.

Nicht von Trauer, nicht von Tod und Vergehen, nicht von Vergangenheit ist die Rede im Bibeltext des heutigen Tages, sondern von der Zukunft: Der oder die Propheten, die hinter dem Namen JESAJA stecken, formulierten vor 2600 Jahren für das israelische Volk in Knechtschaft die faszinierende Zukunftsvision:

Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, in der Gerechtigkeit wohnt.(Jes, 65,17).

Einen neuen Himmel und eine neue Erde. Angesichts der Klimaerwärmung des Ozonlochs und der CO2-Verschmutzung, denke ich, ja wir brauchen, selbst wenn wir so einen Text ganz diesseitig verstehen – auch einen NEUEN HIMMEL.
Und eine neue Erde. In der Gerechtigkeit wohnt. Und Friede. Und wie es im Psalm 85 heißt:

Wo Gerechtigkeit und Friede sich küssen.

Nur, wer Gott, als ausserhumanes, vom Menschen getrenntes, über den Wolken schwebendes Moral-Institut mißinterpretiert, wird darin Verantwortungsdelegation vermuten.

Nein, WIR müssen es tun: Einen neuen nachhaltigen Himmel schaffen und eine neue Erde, in der Friede und Gerechtigkeit eins werden.

Zuhause dann lese ich das ganze Kapitel Jesaja 65 und staune, über die Konkretheit der Visionen.

Jesaja sagt: Was des Volkes Hände schaffen, soll des Volkes Hände sein.

Er nennt es nur anders:

Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse.
Und sie sollen nicht (mehr) umsonst arbeiten.

Wie anders als Mindestlohn und Grundeinkommen muss man diese zweieinhalb Tausend Jahre alte Vision für eine Neue gerechte Ordnung auf Erden heute übersetzen.

Schon jetzt merke ich, es war nicht umsonst, dass ich nach nur 3 Stunden Schlaf nach dem heftigen Streit mit einem meiner Söhne aufgestanden bin und in die Kälte ging.

Danke, Johannes und Erika!
Ich hatte mir vorgenommen, vor allem meiner Eltern zu gedenken. Erika (1917-2001)

und Johannes (1905-1987), denen ich mein Leben und meine Grundmuster verdanke, und die ich – je mehr ich Verantwortung für meine Schmerzen selbst übernehme, immer dankbarer werden.

Nun taucht im Verlauf der Liturgie noch ein anderer Name in meinem Herzen auf:

Joachim. Geboren 1948 und gestorben 1948. Mein Bruder. Den ich nie kennenlernte, der nur zwei Wochen lebte. Und auch für diesen Tod nennt Jesaja eine Vision:

Vers23: Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen.

Meine Eltern hatten es nicht bös gemeint, als sie mir in meiner Kindheit sagten: Wäre Joachim nicht gestorben, wärest Du nicht auf der Welt. Dennoch habe ich mich als Kind immer schuldig gefühlt. Dachte, ich lebe auf Kosten des Lebens von Joachim.


Schon im September führte mich der Zufall der Rückreise von Margot und mir nach Locarno,, dem Ort meiner Zeugung.

In der warmen aphrodiserenden Luft des Tessins konnte ich förmlich einamten, dass Erika und Johannes (nach den Grauen Berliner Bombennächte und der als Sanitätsoffizier erlebten Gräuel an der Ostfront) nun erstmals auf Einladung schweizerischer Gemeinden einen wahrhaftigen Luxus-Urlaub genossen und lustvoll ihr drittes Kind zeugten, dass sie später Mathis (hebr.: Geschenk Gottes) nennen würden.

Und nun, da ich frierend mit 62 Jahren vor der Kapelle des Basdorfer Friedhofes stehe, kann ich das erste Mal dankbar empfinden: Ja, Joachim, Danke! Weil du starbst, konnte ich leben. (Zumindest unter der Annahme, dass die Empfängnisverhütung der Eltern keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte).

Kann ich mir das erste Mal eingestehen: Es fühlt sich gut an, zu leben, weil ein Anderer starb.

Ja, es fühlt sich gut an, zu leben.

Nie konnte ich wirklich begreifen, wieso ein Sohn Gottes gefoltert, genagelt und gekreuzigt werden musste, damit es mir, uns besser gehen solle.

Heute verstehe ich es ein bisschen besser.

Memento Mori. Gedenkt der Toten.

Oder wie ich erst diese Woche bei facebook als Zitat eines mittelalterlichen jüdischen Mystikers las:

„Das Geheimnis der Erlösung heißt: Erinnerung. Das Vergessen-Wollen verlängert das Exil.“

Und wenn ich der Toten in diesem Jahr gedenke, so denke ich auch an meine Tante Elisabeth. Erst in diesem Jahr haben mich meine Nachforschungen dazu gebracht ihr exaktes Geburtsdatum zu erfahren. Am 17.September wäre sie 105 Jahre alt geworden. Sie wurde nur 36 Jahre alt..
Weil sie eine von der Mutter erzwungene Abtreibung psychisch nicht verkraftete, kam sie in die Nervenklinik, wo sie die Nazis im Rahmen der Euthanasie-Operation zu medizinischen Versuchen mit Insulin überschwemmten, bis sie starb.

All das hab ich erst jetzt erfahren. Mein Vater, der nach dem Krieg Pfarramt, „bürgerliche Existenz“ und wohl auch Ehe verlor wegen seines Einsatzes gegen einen neuen Krieg, einen neuen Militarismus, er konnte über die Verbrechen gegen seine Schwester nicht reden.

Nun erfahre ich immer mehr über sie. Bald werde ich von einer entfernten Cousine Liebesbriefe bekommen, die sie und der später als Historiker berühmt gewordene Fritz Fischer austauschten.

Und als die Pfarrerin Heute auf dem Friedhof Namen der in diesem Jahr verstorbene Gemeindemitglieder vorliest, denke ich noch an etwas Anderes.

Memento mori
Die Lesung von über 700 Namen der in den ersten Tagen der „deutschen Operation“ von Stalins NKWD in der UdSSR ermordeten KommunistInnen und AntifaschistInnen. Am 25. Juli 2012 vor der Volksbühne und gegenüber dem Karl-Liebknecht-Haus. Unter den 40 Erschossenen die ich vorzulesen hatte, auch jene, deren Schicksal ich ein wenig besser kenne: Hermann Remmele und Leo Flieg.

rbb bericht
Eine Film davon wird es demnächst auf YouTube geben und auch beim erneuten Anhören schaudert es mir: Name und Alter. Die meisten unter 40, unter dreißig, oft Geschwister oder Kinder und Eltern. Über 7.000 Ermorderte und Verhungerte allein aus den Reihen der deutschen Linken zählt der Historiker Wladislaw Hedeler inzwischen.

Memento Mori. Gedenkt der Toten und gebt euren Beitrag für einen neuen Himmel, eine neue Erde, wo Friede und Gerechtigkeit sich küssen.

Das wären auch biblische Begründung für diese links-historische Premiere gewesen, die ich in diesem Jahr mitgestalten konnte: Das erste Mal außerhalb Russlands wurde durch solch eine Namens-Lesung der Toten des Stalinismus gedacht.

Mein Bruder Joachim, gestorben im Alter von 2 Wochen 1948 in Bremen

meine Tante Elisabeth, ermordet in Brandenburg 1943

Leo Flieg und Hermann Remmele, erschossen in Moskau 5 Jahre zuvor.


Die ARD-Themen-Woche „Leben mit dem Tod“ geht heute zu Ende.

Spätestens mit dem bewussten Begleiten des Todesprozesses meines Vaters vor 25 Jahren erlebe ich Tod immer wieder und immer mehr als ein Geschehen, von dem mir Kräftigung und Trost, nicht Angst und Hilflosigkeit zuwächst.

Danke Joachim,

danke Vater und Mutter,

danke Tante Elisabeth,

danke Leo Flieg und Hermann Remmele.

Euer Leben macht mir Mut: Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, in der Gerechtigkeit wohnt.



 

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